DIE TOTALE PROTHESE

Informationen für Zahnmediziner

Aufgrund meiner langjährigen praktischen Erfahrung und Tätigkeit an der zahnmedizinischen Fakultät der Universitätsklinik Greifswald nimmt die Herstellung von totalen Prothesen eine hervorragende Stellung meiner Arbeit als Meister und Laborinhaber ein.

"Die Totalprothetik hat eine sehr lange Geschichte, erste wissenschaftliche Arbeiten stammen aus der Zeit des frühen 18. und 19. Jahrhunderts. Viele Pioniere leisteten sehr fundierte Grundlagenforschung die bis in unsere Zeit teilweise noch Bestand haben. So zum Beispiel Philipp Pfaff, der 1756 ein Abformverfahren und Bissnahme mit Wachs und Siegellack beschrieb. Die Gipsmodelle brachte er mit einem einfachen Gipsokkludator zueinander. 1808 entwickelte Gariot einen Scharniergelenkokkludator aus Metall. Nachdem 1776 die ersten Porzellanzähne in Paris hergestellt wurden, nahm Claudius Ash 1838 in England die industrielle Fertigung auf.

Parallel forschten andere Wissenschaftler. So ergaben die anatomischen Untersuchungen von Bonwill den ersten brauchbaren Artikulator, konstruiert auf wissenschaftlicher Grundlage aber noch mit waagerecht verlaufenden Kondylenbahnen. An über tausend Schaedel konnte er nachweisen, daß sich zwischen den Mitten der Kondylen der Kiefergelenke und dem Berührungspunkt der unteren, mittleren Incisiven sich ein gleichseitiges Dreieck aufspannt. Balkwill benannte die Neigung des Bonnwilldreiecks zur Okklusionsebene mit 220-270 (Balkwilkwinkel). Bonwilldreieck und Balkwillwinkel sind heute noch Konstruktionsmerkmale im modernen Artikulatorenbau. Dieser, für lange Zeit in Vergessenheit geratene Wissenschaftler, hatte schon 1866 in London seine Forschungsergebnisse vorgestellt. Er beschrieb unterschiedliche Unterkieferbewegungen, Eckzaehne als Führungselemente und die Geometrie des „Gotischen Bogen“. 1870 beschrieb Bennett die Bennet’sche Lateralbewegung, das seitliche Versetzen des Unterkiefers waehrend einer Lateralbewegung und den Bennetwinkel, der gebildet wird durch die Kondylenbahn der Mediotrusionsseite und der Sagittalrichtung, projiziert auf die Horizontalebene. Hayes konstruierte 1887 einen Gesichtsbogen zur gelenkbezueglichen Orientierung der Modelle in den Artikulator. In den Jahren 1890 - 1901 ergaben die Forschungen von Walker, von Spee (Speekurve) und Christensen (Christensen`sche Phänomene) weitere Erkenntnisse ueber die Anatomie des Kiefergelenks und seinen Bewegungen

Der grosse Forscher und Lehrer Alfred Gysi (1865 - 1957) griff viele der vorgenannten Erkenntnisse auf und entwickelte zusammen mit seinen eigenen Forschungsergebnissen seine Artikulationslehre. 1908 erschien „Das Artikulationsproblem“. Die Entwicklung von ca. 15 Artikulatoren und Gesichtsbogen und die Einführung des Inzisalstifts gehen auf ihn zurueck. Er machte sich die Vorteile eines individuell verstellbaren Frontzahnführungsteller zu Nutze (n. Fischer) und untersuchte 50 weitere Artikulatoren treu nach seinem Grundsatz: „Pruefe alles und behalte das Beste“. Mit unermüdlichem Forscherdrang überarbeitete Gysi im hohen Alter seine Artikulationslehre ein letztes Mal (1957) und „gute Aspekte von anders denkenden Kollegen“ fliessen in seine Lehrmeinung mit ein. So unterscheidet sich diese neue Auffassung demnach sehr deutlich von seinen Aussagen aus dem Jahr 1923. Parallel zu Gysi entwickelten andere Forscher weitere Lehrmeinungen. So z.B. Balters, Fehr, Haller, Hiltebrand, Strack und Pound. Viele der damaligen Ideen und Forschungsergebnisse sind heute noch Bestandteil der neuen Konzepte. Hanau entwickelt auf der Grundlage der von Gysi beschriebenen „Balancierten Okklusion“ die Hanau`sche Quint. Sie beschreibt die wechselseitige Beeinflussung von Gelenkbahnneigung, Okklusions- ebenenneigung, Schneidezahnführung, Kompensationskurve und Hökerhöhe.

Gerber veröffentlicht 1962 seine Kondylartheorie. Als Schüler von Gysi uebernimmt er dessen Ideen, die Erkenntnisse von Hiltebrand ueber dessen physiologische Betrachtung des Kauvorgangs und die Empfehlungen von Pound zur lingualisierten Aufstellung und formt daraus ein in sich logisches Konzept für die Totalprothetik. Die konsequente Entwicklung der Condyloformzähne und des Condylators mit Gesichtsbogen bestätigen seine Lehrmeinung bis heute. Seine Schueler u.a. Palla, Bosshart, Lerch und Stuck griffen die Ideen auf und entwickelten sie basierend auf den täglichen praktischen Erfahrungen weiter. So erweitert Lerch die Modellanalyse um die Innen- und Aussen-Korrekturbereiche. Stuck entwickelt basierend auf der Gerbertheorie die individuelle Aufstellung am Patienten nach phonetischen, physiognomischen und aesthetischen Gesichtspunkten im muskulaeren Gleichgewicht. Aus der Innsbrucker Schule (Gausch) hat er die Eckzahnführung bzw. die 4er-Dominanz uebernommen. Die von Stuck entwickelte APFNT-Methode fusst auf obige Erfahrungen und ist eine Systemaufstellung nach mittleren Werten, die jederzeit mit individuellen Werten und Angaben durch den Behandler erweitert werden kann. Voraussetzung ist das APFNT - Instrumentarium und ein „Protar“ - Artikulator. Allais verfolgt die gleiche Richtung, er erweitert sein Vorgehen um die Gesichtsanalyse des Patienten. Dabei bewertet Allais die knöchernen Strukturen und die facialen Weichgewebe. Die Informationen hierfür erhaelt er aus einer Fernröntgenaufnahme und einer Lateralfotografie des Patienten.

Viele Wissenschaftler und Lehrer sind in dieser kurzen Exkursion nicht erwähnt worden, was ihre Bemühungen um die Totalprothetik nicht in den Schatten stellen soll. So geben u.a. Slavicek, Gutowski, Gruner, End, Stuettgen, Huber, Schulz und Koerholz ihre langjährigen Erfahrungen und Lehrmeinungen an einen grossen Kreis interessierter Prothetiker weiter.

Vorwiegend werden die bilaterale balancierte Zahnaufstellung und die eckzahngeführte Zahnaufstellung seit Jahren in der Ausbildung angeboten. Beide Lehrmeinungen manifestierten sich und wurden in der Folge zum Teil sehr konträr diskutiert. Aber Annäherung ist in Sicht. So konnten durch erste Untersuchungen durch Peroz und Allais belegt werden, das es die allein richtige Methode nicht gibt. Anlässlich einer kleinen Studie konnte an 22 Totalprothesen die nach einer 3 monatigen Tragedauer auf das jeweils andere Okklusionskonzept umgearbeitet wurden, keine signifikante Aussage für das eine oder andere Konzept gemacht werden. Allais stellte fest, das nicht für jeden Patienten das gleiche Konzept anzuwenden ist. Er untersucht die biologischen Voraussetzungen für ein okklusales Schema zur Rehabilitation zahnloser Patienten. Beide Veröffentlichungen zeigen den richtigen Weg auf, weitere werden folgen müssen.

Neben den sehr intensiven Diskussionen um das „richtige“ Okklusionskonzept sind viele Empfehlungen und Hinweise zu weiteren Funktionsflächen, Arealen und Vorgehensweisen etwas ins Abseits gerutscht. Diese gilt es nun wieder mehr in den Vordergrund zu Stellen, da sie unabhängig vom Okklusionskonzept allgemein gültigen Charakter haben.

Vor ca. 90 Jahren bereits empfahl Gysi „mit Hilfe des Gesichtsbogens den räumlichen Abstand der Okklusionsebene zu den beiden Kondylen zu registrieren und später auf den Artikulator zu uebertragen“. Leider ist es bis heute noch nicht gelungen dieses unverzichtbare Instrumentarium zum Standart in der prothetischen Versorgung in den Praxen werden zu lassen. Alle Referenten weisen in ihren Kursen immer wieder darauf hin, mindestens mit einem Schnellübertragungsbogen die Oberkiefermodelle schädel- und gelenkbezüglich in den Artikulator einzusetzen. Untersuchungen haben ergeben, dass bei der Modellmontage nach dem Bonwilldreieck und der Montage mit Gesichtsbogen im Bereich der Artikulatorenachse es zu sehr grossen Abweichungen kommt. (Horn u. Opitz) Weiterhin ist festzuhalten, dass eine intraorale Stützstiftregistrierung verbunden mit der Bestimmung der individuellen Gelenkbahnneigung die Grundvoraussetzung zur Erstellung totaler Prothesen ist (Horn u. Stuck, Palla, Allais).

McGrane (1946) gab Durchschnittswerte für die vertikale Höhe der Waelle auf Registrierschablonen an, die dann auf mitteleuropaeische Verhältnisse ausgelegt wurden. Mit dem „Rim-Former“ werden die Wachswälle auf die Masse 20mm (Oberkiefer) und 16 mm (Unterkiefer) heruntergeschmolzen; jeweils aus dem tiefsten Punkt der Umschlagfalte heraus gemessen. Bei richtiger Handhabung des Rim-Formers ergibt sich fast automatisch schon eine Parallelität des Oberkiefer-Wachswalls zur Camperebene und Bipupillarlinie. Beides Bezugslinien, an denen sich später die Okklusionslinie ausrichtet. Der Behandler hat nun die Möglichkeit diese Parallelität des Wachswalls am Patienten mit Hilfe der Bissgabel zu überprüfen und gegebenenfalls etwas zu korrigieren.

Als gute Hilfsgeräte bewähren sich seit längerer Zeit das Alameter und das Papillameter. (Candulor) Mit dem Papillameter wird die Strecke Papilla-Incisiva bis zur Lippenlinie bestimmt, mit dem Alameter wird die Breite der Nasenbasis gemessen. Beide Werte werden auf die Ästhetik-Schablone (Horn) bzw. auf die physiognomische Kontrollschablone (Stuck) uebertragen. Mit dem Rim-Former wird nun der Wall bis an die angegebene Laengenmarkierung abgeschmolzen und im Winkel von ca. 600 der Bukkalkorridor bis zur Markierung, gegeben durch das Alameter, abgeschmolzen. Gutowski nennt diese Schablonen Ästhetik-Funktionsschablonen und fertigt diese jeweils fuer Ober- und Unterkiefer an. Besonderen Wert legt er auf die Berücksichtigung des Zungenäquators und läßt eine Essprobe mit Knäckebrot durchfuehren.

Mit der Funktionsschieblehre wird der sagittale Abstand der Ober- und Unterkiefer-Fronten und der vertikale Abstand der Fronten der alten Prothesen, des prothetisch zu versorgenden Patienten, vermessen. Weiter wird die vertikale Höhe beider Prothesen in maximaler Intercuspidation und die Zahnbogenabstände ausgemessen. Alle Angaben werden in einen Vermessungsbogen eingetragen. Diese Werte können somit zur Anfertigung der Ästhetik-Schablonen und der Registrierschablonen zur Bestimmung der Vertikaldimension hinzugezogen werden. Später lassen sich auch so die Werte der alten Prothesen mit den der Neuen vergleichen. (Gutowski).

Mit dem Profilzirkel wird bei der Modellanalyse der Kieferkammverlauf auf den Modellrand übertragen. An dem Punkt, wo der Kieferkamm steiler ansteigt als die Kondylenbahnneigung, wird die Stopplinie markiert. Dahinter darf aus statischen Gründen kein Zahn mehr mit antagonistischem Kontakt aufgestellt werden. Zusätzlich wird die tiefste Stelle des Kieferverlaufs als Kauzentrum markiert, der breiteste Zahn findet hier seine Position.

Phonetik und Physiognomie sind die wesentlichen Parameter, die bei der Frontzahnaufstellung zum Tragen kommen muessen. Hier hat der Techniker eine exakt ausgeformte Ästhetik-Schablone zur Hilfe oder was wohl heute noch selten vorkommt, den direkten Kontakt zum Patienten. Die Erkenntnisse der Logopädie über die Lautbildung im Bereich der Frontz‰hne muss sich hier zu Nutzen gemacht werden. (Stuck) Auch die Symmetrie des Schneidekantenverlaufes ist ein wesentlicher Punkt bei der Frontzahnaufstellung. Ackerman beschrieb das als „Frontzahntreppe“ (1944) und die Arbeit von Igraham u. Muff (1964) weisen in die gleiche Richtung. Die zentralen Incisiven sind die längsten und die Eckzähne die kürzesten. Die Kontaktpunkte sind genauso angeordnet. Zwischen 1-1 liegt er am tiefsten und zwischen 2-3 am höchsten. Eine Parallelität zum Schwung der Unterlippe während des Lachens ist anzustreben. Ein gegen die Lachlinie aufgestellter Incisalkantenverlauf der OK-Front wirkt sich dagegen auf das Aussehen des Patienten negativ aus (Horn).

Zur kaustabilen Aufstellungen der Seitenzähne wird die knöcherne Grundlage der Kiefer auf den Modellen vorab eingezeichnet. Im Oberkiefer ist das der Bereich innerhalb der tiefsten Stelle der Umschlagfalte und im Unterkiefer wird die Linea mylohoidea und die Linea opliqua dazu herangezogen. Im OK dürfen die zentrischen Höcker nicht über diese Begrenzungslinie hinaus aufgestellt werden und im UK dürfen die zentrischen Gruben nicht ausserhalb dieser Linien liegen. Je mehr man sich von der Ideallinie, der Kieferkammmitte nach bukkal entfernt, desto stärker ist für eine bukkale Entlastung zu sorgen. Diese Aussage beruht auf Arbeiten von Pound und später auch von Gerber. Stuck hat sie in das APFNT-System mit eingebracht. Lerch geht den Weg über die Festlegung der sogenannten Aussen- und Innen- Korrekturen bei der Modellanalyse. Diese Methode wurde auch von Koerholz uebernommen. (TiF)

Bereits 1956 gaben Frush und Fisher Empfehlungen zum individuellen Gestalten der „rosa Ästhetik“. Altersgerecht aber nach femininen und maskulinen Gesichtspunkten lassen sich der künstliche Marginalsaum, die marginale Gingiva, die Interdentalpapille und die gingivale Furche ausformen. Der marginale Saum der oberen Frontzähne unterliegt anatomischen Gesetzmäßigkeiten, die beim Ausmodellieren des rosa Prothesenanteils mit zu berücksichtigen sind. Hervorgerufen durch das Wurzelmerkmal verläuft der Saum distal immer etwas höher als mesial und die sich daran anschließende Vorwölbung der Gingiva verläuft ebenfalls nach distal.

Mit einer Schablone, die vor dem Umsetzen der Aufstellung in Kunststoff eingearbeitet wird, lassen sich die Gaumenfalten sehr naturgetreu nachahmen. Die Zunge erhält so ihr natürliches Reibefeld wieder. Der Belag auf der Zunge von Prothesenträger, u.a. hervorgerufen durch zu weiche Nahrung, eingeschränkten Kauleistung sowie einer zu glatten Prothesenoberfläche wird nicht mehr physiologisch abgeschliffen. (Strassburg) Aber Vorsicht - nicht alle Patienten kommen mit diesen harten Gaumenfalten zurecht. (Stuck)

Vor der Fertigstellung wird am Oberkiefermodell der dorsale Abschluss nach der Empfehlung von Bawendi radiert und die Hohllegung des Torus palatinus nach Angabe des Behandlers vorgenommen. Nur er kann die Stärke und die Ausdehnung der Hohllegung am Patienten erfassen und auf das Modell übertragen.

Fazit: Die Totalprothetik hat eine sehr lange wissenschaftliche Geschichte und sehr viel Muetter und Vaeter. Trotzdem rutschte sie, auch bedingt durch berufspolitische Entwicklungen in ein Nischendasein. Neue Zahnlinien, Artikulatoren und Zubehoer aber auch der Mut einiger Kollegen aus Industrie und Technik, neue Wege zu beschreiten, haben die Totalprothetik auf ganzer Breite wiederbelebt. Mit dem erwähnten Instrumentarium, bewährten Verfahren, fundierten theoretischen Kenntnissen und der Bereitschaft der Behandler, uns Technikern ein paar mehr Informationen als nur Patientennamen und Zahnfarbe zu kommen zu lassen, sind wir in der Lage, ganz hervorragende Arbeiten zu erstellen. Die neuesten Veroeffentlichungen in der Fachliteratur sind ein Spiegelbild dessen, was heute schon machbar ist. Mit den neuen Totalprothetiksystemen lassen sich eine große Anzahl von Patienten mittelwertig versorgen. Mit Sicherheit gehört aber der individuellen Totalprothetik die Zukunft, was den Menschen, die darauf angewiesen sind, nur von Herzen zu wünschen ist!"

Text: J. Mehlert, ZTM, Hamburg




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